Krisen sind uns so vertraut wie widerlich. Neben persönlichen, kennen wir familiäre und soziale Krisen, gesellschaftliche und nationale, ja sogar weltweite. Sie können Wirtschaft wie Politik, Landwirtschaft und Industrie, aber auch das Schul- und eigentlich jedes System treffen. 

 

Niemand ist sicher vor ihnen, Reiche so wenig wie Arme, weder die wichtigen noch die weniger bedeutenden Zeitgenossen und nicht einmal deren Fußballclubs. Die Belgier haben vor kurzem sogar die Krisensteuer erfunden, sicher ein einträgliches Geschäft in krisengebeutelten Zeiten.

Solange wir Krise ausschließlich auf ihren negativen Aspekt festlegen, bleiben wir ihr Opfer und erleiden sie. Das müsste nicht so sein, wie ein forschender Blick auf das Wort selbst verrät. Im Chinesischen setzt sich das Schriftzeichen für Krise aus zwei Zeichen zusammen, dem für Gefahr und jenem für Chance. Und tatsächlich kann uns jede Krise auch zur Chance werden, in neue Bereiche hineinzuwachsen. Das griechische Wort "Crisis" heißt auch noch Entscheidung. Jede Krise beinhaltet in der Tat die Entscheidung, ob ich mich dem neuen, das auf mich zukommt, stelle oder ob ich mich verweigere und folglich die Krise durchleide.

Alle Krisen folgen einem (arche-)typischen Muster, wie es sich etwa am Beispiel der Pubertät darstellen lässt. So wunderbar die Kindheit gewesen sein mag, irgendwann kommt die Zeit, wo Kindsein keinen Spaß mehr macht und stattdessen wie aus heiterem Himmel unerklärliche Spannungen auftreten, die alles in einem anderen neuen Licht erscheinen lassen. Weder Fisch noch Fleisch weiß der Volksmund, und die Kinder, die keine mehr sind, kommen mit sich und der Welt nicht mehr zurecht. Sie müssen, ohne noch das Ziel der Entwicklung, das Erwachsensein zu kennen, die vertrauten Kindheitsgefühle opfern, um zu neuen Ufern zu gelangen. Was für die Pubertät gilt, trifft für den Wechsel der Lebensmitte zu und für fast jede Berufs- und Partnerkrise. Auch in von Menschen inszenierten Krisen finden wir dasselbe Muster vom Ansteigen der Spannung über das notwendige Opfer des Alten hin zur Öffnung gegenüber dem Neuen. Der erste Schultag ist solch eine typische inszenierte Krise, die der kindlichen Sicht durchaus vermeidbar erscheinen mag. Wenn eine schlaue Schulanfängerin – trotz süßer Schultüte und anders lautenden elterlichen Versicherungen - bereits am ersten Schultag das Drama durchschaut, hilft ihr das doch nur begrenzt. Die aufkommende Enttäuschung über die Schule beendet die Täuschung, dass das Leben auf ewig ein Kinderspiel bleiben könnte. Entweder das Kind verweigert sich nun dem Neuen und hält krampfhaft an der verspielten Kindheit fest, oder es stellt sich und beginnt Neues zu lernen. Im ersten Fall mag es gelingen, neun Jahre lang im Widerstand zu bleiben. Das daraus folgende Leid eines Analphabeten wird sich durch das ganze weitere Leben ziehen. Was wir nicht hinter uns bringen, bleibt vor uns. Im anderen Fall wird das Kind lernen und nach dem Opfer bisheriger Freiheiten der neuen Schulsituation vielleicht sogar gute Seiten abgewinnen.

Seit alters her haben Menschen ihre Erfahrungen mit Krisen gemacht, haben versucht, sich vor ihnen zu drücken oder sich auf sie vorzubereiten. Einige wenige haben zu allen Zeiten erkannt, dass Krisen zum Leben gehören und es unternommen, sich ihnen freiwillig zu stellen, ja sie haben freiwillige Krisen auf sich genommen, um dem Thema des Umbruchs und Neuanfangs gerecht zu werden. Das heute wieder populär werdende Fasten lässt sich als solch eine freiwillige Krise betrachten. Auch hier haben wir wachsende Spannung in den ersten drei Tagen, wo der Körper sich noch sträuben mag, das Alte nicht mehr und das Neue noch nicht funktioniert. Das zu Anfang fällige Opfer der gewohnten Mahlzeiten ist ebenso deutlich wie später der Gewinn neuer Freiheit und Leichtigkeit.

An wenigstens drei Mahlzeiten gewöhnt, können sich die meisten Menschen gar nichts anderes mehr vorstellen. Ein Verzicht auf nur eine Mahlzeit gebiert oft schon Gedanken an Krise. Dabei ist auch das Essen selbst längst ein Krisenthema. Die auf unbewusstes Essen zurückzuführenden Schäden belaufen sich in diesem Land auf über 50 Milliarden Euro pro Jahr. Der Amerikaner Leon Chaitow berichtet von erschütternden Tierversuchen. Füttert man nämlich Versuchstiere mit genau der Nahrung, die amerikanische und deutsche Durchschnittsbürger zu sich nehmen, reduziert sich dadurch nicht nur deren Lebenserwartung um ein Drittel, sie sterben auch jenen elenden Tod an Zivilisationskrankheiten, dem die meisten Menschen moderner Wohlstandsgesellschaften zum Opfer fallen. Chaitow, eher am Gegenteil interessiert, nämlich wie sich die Lebenserwartung erhöhen lässt, belegt, dass Reduktionskost über lange Zeit dieselben Tiere um 25 % älter werden lässt. Auch bei uns Menschen erweist sich knappe Vollwerternährung mit ein bis zwei Fastenperioden pro Jahr als einzig wirklich verlässliche Maßnahme der Lebensverlängerung. Und dadurch verlängert sich nicht nur die Quantität der Lebenszeit, sondern auch die Qualität des Lebens sehr spürbar.

So erstaunt es nicht, dass das Thema Essen seit Jahren Konjunktur hat und Diäten einen Dauerboom verzeichnen. Verblüffend ist allerdings, wie wenig Einfluss das auf die Lebenserwartung hat. Nicht was wir essen ist entscheidend, sondern wieviel und wie und ob wir uns und unserem Organismus auch Pausen gönnen. Jeden Morgen sollte das Frühstück (englisch break-fast) eine Fastenperiode von wenigstens 12 Stunden brechen, die notwendig ist, um den Organismus ausreichend zu regenerieren. Ganz analog würde einmal im Jahr ein längeres Fasten ungeahnte Regenerationskräfte freisetzen. So wie wir mit der Ruhe der Nacht im Rücken den Tag überstehen, könnten wir von der Ruhe der Fastenzeit ein Jahr lang zehren, vorausgesetzt es handelt sich wirklich um eine Ruheperiode nicht nur für den Körper, sondern auch für Geist und Seele. Wirklich bewusstes Fasten bedeutet, dass neben den Kleidern auch das Bewusstsein weiter wird.

Von dem kleinen Himalayavolk der Hunzas, das bis Mitte dieses Jahrhunderts abgeschnitten von den Segnungen der Zivilisation lebte und auf Grund seiner kargen Lebensverhältnisse jedes Frühjahr zu einer langen Fastenzeit gezwungen war, gibt es eindrucksvolle Zeugnisse fast unverwüstlicher Gesundheit. Die Menschen wurden steinalt und kannten keines der typischen Zivilisationssymptome. Herzinfarkt und Krebs waren ebenso unbekannt wie jede Form von Kriminalität. Wenn ich mir als Arzt solche Fakten betrachte, fielen mir auch für uns moderne Menschen einfache Lösungen ein. Gelänge es uns, die christliche Fastenzeit zu reaktivieren, könnten wir in absehbarer Zeit ganze Krankheitsbilder wie Gicht und Rheuma, Altersdiabetes und Bluthochdruck vergessen. Dem Herzinfarkt würde die Basis genommen und dem Krebs zumindest das Terrain erheblich ruiniert. Dass wir eine so einfache, billige und wirksame Maßnahme nicht nutzen liegt wohl im Macherwahn unserer Medizin, die noch immer (auf typisch männliche Art) davon träumt, Gesundheit produzieren zu können. Wohin dieser Wahn bezüglich des Themas Gewichtsabnahme führt, erlebten wir immer wieder an Skandalen um tödliche Schlankheitspillen.

Fasten erscheint vielen modernen Medizinern offenbar zu einfach, zu billig und vor allem zu unprofessionell, denn man braucht schon sehr bald keinen Arzt mehr dazu. Im Gegenteil müssten sich Fastenärzte darauf gefasst machen, viele Patienten auf diese Weise zu verlieren, jene nämlich, die über diesen Weg Kontakt zu ihrem Inneren Arzt finden, wie Paracelsus die Heilkraft nannte, die in jedem von uns steckt. Fasten als Therapieform spricht den archetypisch weiblichen Pol in uns an, dem es nicht um Machen, sondern um Loslassen geht. Wir werden dadurch ganz nebenbei sensibler und empfänglicher für Signale aus dem eigenen Inneren und bekommen so die Chance, den Kontakt zu unserer inneren Stimme und den Träumen der Nacht wieder zu finden. Mit einem verlässlichen Draht zum eigenen inneren Arzt, werden äußere Ärzte weniger nötig. Nicht mehr gebraucht zu werden, ist aber die Horrorvision der allermeisten Menschen und auch die von Ärzten.

So gibt es denn noch immer Kollegen, die generell und dringend vor dem Fasten warnen und sich damit in Widerspruch zu allen großen Religionen und spirituellen Traditionen setzen. Sie tun es mutig und engagiert, um die eigene Notwendigkeit zu retten. Wenn man so will, lässt sich in den ersten drei Fasttagen einiges Krisenhaftes finden, vor dem entwicklungsfeindliche Therapeuten warnen. Der Organismus, der Fasten nicht gewöhnt ist, kann Widerstand leisten mit Hungergefühlen, Übelkeit, Kopfschmerzen (vor allem bei Kaffeegenießern) und einem Aufstand oder noch häufiger angedeutetem Zusammenbruch des Kreislaufs. Wie am ersten Schultag ist es eine reine Bewusstseinsangelegenheit, wann diese überschaubaren Dramen auch wieder nachlassen. Spätestens nach dem dritten Tag hat der Körper die neue Botschaft angenommen und stellt den Widerstand ein. Er lebt jetzt sehr gut vom eigenen Fett, und es gibt keinen Grund, warum ihm dieses schlechter bekommen sollte als das von Schweinen.

Von jetzt ab wird es den meisten Fastenden sehr gut gehen und vielen besser als vorher, weshalb Ärzte von der Fasteneuphorie sprechen, jenem Gefühl beschwingter Leichtigkeit und beeindruckender Klarheit in den Gefühls- und Gedankenwelten. Am Ende, wenn die verbrauchten Pfunde in Kalorien umgerechnet werden (1 Gramm Fett ergibt fast 10 kcal), stellt sich beruhigend heraus, dass der Körper jeden Tag eine ausreichende Kalorienmenge zur Verfügung hatte, zumal er die gesamte Verdauungsenergie einspart. Diese Einsparung dürfte für die euphorischen Gefühle von Energieüberfluss verantwortlich sein. Treten diese einmal nicht auf, liegt es daran, dass der Organismus die vorhandene Energie für Reparatur- und Aufräumungsarbeiten verbraucht. Auf alle Fälle ist jetzt Regeneration angesagt. Fastende leben vom eigen Eingemachten und vieles hängt davon ab, in welchem Zustand es ist. Ernährung und Lebensstil spielen eine Rolle, aber auch Schlafdefizite der Vergangenheit können sich mit Müdigkeit bemerkbar machen. In jedem Fall aber geschehen nun sinnvolle Maßnahmen in der Regie des inneren Arztes. So wird es verständlich, dass Fasten eine der besten Regenerationsmethoden darstellt und die beste Einstellung auf Krisen.

Je schwerer die Krise, desto drastischer reduziert sie uns auf Wesentliches. Durch Fasten reduzieren wir uns freiwillig auf das Wesentliche. Auch wenn wir noch so viele Pfunde verlieren. wird uns danach doch nichts fehlen, im Gegenteil, was übrig geblieben ist, erscheint uns wesentlicher, sauberer und ist leichter (durchs Leben) zu tragen. Fastende tragen aber nicht nur körperlich leichter an sich, sie (er-)tragen auch ihr Leben im allgemeinen leichter. Körperlich und seelisch sind sie besser in der Lage, mit Krisen fertig zu werden, haben sie doch gelernt und ihrem Körper beigebracht, immer wieder zum Wesentlichen zurückzufinden.

Neben der Vorbeugung ist das Fasten aber auch als Akutmaßnahme bewährt, um den bewussten Durchgang durch schwierige Krisenzeiten zu erleichtern, indem man sich selbst auf verschiedenen Ebenen erleichtert. Krisen fordern in ihrer ersten Spannungsphase Bilanz von uns und dann das Abwerfen von Ballast. Genau das aber geschieht beim Fasten auf eindrucksvolle Weise. Es wird so gleichsam zu einem Krisenbewältigungsritual, fördert es doch in Körper, Seele und Geist genau das, was die Krise von uns will: Eine Wendung nach innen, das bewusste Opfer im Loslassen alles Überflüssigen und die Neubestimmung des eigenen Standortes. Nicht umsonst war Fasten in alten Zeiten ein religiöses Ritual für solche Zeiten des Umbruchs und ersetzte den Menschen Psychotherapie und Medizin.

Sich mit wenigem begnügen ist schwer, sich mit vielem begnügen noch schwerer. 

Marie von Ebner-Eschenbach